"Dunkelziffer Unbekannt" erschienen: Seite 6 von 6

Antisemitische Straßenumbenennungen und das Gerede von neuem Unrecht

Während der Zwanziger Jahre wurden in der Weimarer Republik zunehmend Straßen nach Orten benannt, die im Zuge des Friedensvertrages von Versailles aus dem Deutschen Reich ausgegliedert worden waren. Dies war eine Manifestation des zunehmenden Erstarkens nationalistischer und revanchistischer Kräfte in der Weimarer Republik, die den Friedensvertrag als „Schanddiktat von Versailles“ bezeichneten. In dieser Zeit wurden - vornehmlich in Kaulsdorf - 1925 ein Königshütter Weg, 1926 eine Waldenburgstraße, eine Striegauer und Strehlener Straße, 1928 eine Druschiner und eine Mühltaler Straße benannt – die Reihe ließe sich noch fortführen. Diese bezogen sich zumeist auf Orte im nun zu Polen gehörenden Teil Oberschlesiens, sowie den Provinzen Posen und Westpreußen und mit der Nordheimer Straße (1928) auch auf das wieder an Frankreich angegliederte Alsace.

Bis 1925 verschwanden alle Straßen, die als Ergebnis der Novemberrevolution Namen von Kommunist_innen und Sozialist_innen trugen, wieder aus dem Kaulsdorfer Straßenbild. Einzige Ausnahme blieb die Lassallestraße bis 1933.

Nach der Machtübernahme der NSDAP setzte sich diese Tendenz bei Benennungen und Umbenennungen von Straßen verstärkt fort. Auffallend viele Neu- und Umbenennungen hatten eindeutige territoriale und politische Motive. In nicht mehr als fünf Jahren, zwischen 1933 und 1938, wurden allein in Kaulsdorf und Mahlsdorf über 30 Straßen nach Orten benannt, die seit dem verlorenen Krieg nicht mehr dem Deutschen Reich gehörten oder im Anspruchsbereich großdeutschen Machtdenkens lagen.

Die Nazis zielten bei der Um- und Neubenennung von Straßen und Plätzen darauf ab, ihrer politische Ideologie auch auf Straßenschildern Ausdruck zu verleihen. Neu- und Umbenennungen hatten im Einklang mit der nationalsozialistischen Weltanschauung zu stehen. Daher beseitigten die Nazis rigoros Straßennamen, die Jüd_innen und Kommunist_innen würdigen sollten. So bleiben auch diese Straßenumbenennungen, obwohl sie scheinbar unverfängliche Namen tragen, eindeutig politisch und ideologisch motiviert.

Nach dem Machtantritt der Nazis folgte auch im heutigen Marzahn-Hellersdorf eine Flut von Straßenumbenennung. Als erste verschwand bereits 1933 die Lassallestraße in Kaulsdorf, um die Erinnerung an einen Protagonisten der Arbeiterbewegung und Schriftsteller Ferdinand Lassalle zu tilgen. Neuer Namenspatron wurde der in Lichtenberg aktive und 1934 verstorbene Nazi Erich Thimm.

Weitere Umbenennungen im Mai 1938 gehen auf ein Schreiben des Oberbürgermeisters von Berlin an die Bezirksbürgermeister am 30. September 1935 zurück. Darin fordert dieser, durch die Reichsleitung der NSDAP nach den zwei Wochen zuvor erlassenen Nürnberger Rassengesetzen veranlasst, die Bezirke auf, „alle jüdische Namen auszumerzen“. Am 16. Mai wurden daraufhin sieben Straßen in Mahlsdorf und Kaulsdorf umbenannt, die nach Menschen jüdischer Herkunft benannt waren. Die Umbenennungen reihten sich ein in die antisemitische Praxis in Nazideutschland, welche in der Shoa eine historisch einmalige Dimension erreichte.

Als Namenspatronen für Straßen in Mahlsdorf und Kaulsdorf sollten ursprünglich neben Ferdinand Lassalle sechs weitere jüdische Menschen und ihr Wirken geehrt und an sie erinnert werden. Dies betraf im Mahlsdorfer Musikerviertel die Komponisten Jacques Offenbach, Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn-Bartholdy, sowie den Maler Max Liebermann, den Musiker Gustav Mahler und den Schriftsteller Heinrich Heine. Von der damals dort wohnenden Bevölkerung gab es kaum Versuche, eine Umbenennung zu verhindern.

Die Bemühungen um die Wiederherstellung der Namen der von den Nazis umbenannten Straßen sind im Bezirk Marzahn-Hellersdorf vielfach erforscht.  In den Nachkriegsjahren wurde die Problematik der nationalsozialistischen Straßenumbennungen angegangen. Bereits 1946 lag der Stadtkommandantur eine umfangreiche Liste mit rück zu benennenden Straßen vor, ca. 130 davon lagen im heutigen Marzahn-Hellersdorf. Zumeist sollten jedoch Straßennamen mit militaristischen, preußischen und nationalsozialistischen Hintergrund, sowie die häufigen Mehrfachbenennungen in Berlin beseitigt werden. Straßennamen, die ursprünglich jüdische Namenspatron_innen hatten, wurden in dieser Liste nur teilweise berücksichtigt.

Am 31. Juli 1947 beschloss der Magistrat von Berlin die abschließende Rückbenennung einer Reihe von Straßen, die jedoch im Verhältnis zur 1946 erstellten Liste nur einen Bruchteil der Straßen betraf. Fast ausschließlich eindeutige mit NS-Bezug benannte Straßen erhielten ihren ursprünglichen Namen zurück.

Im heutigen Marzahn-Hellersdorf wurden gerade einmal drei Straßen, die Billungstraße in Hannsdorfer Straße, der Bückebergweg in Roßlauer Straße und die Thimmstraße wieder in Lassallestraße, zurück benannt. Bis 1990 gab es keine weiteren Bemühungen, den jüdischen Künstler_innen ihren Platz hier im Bezirk zurückzugeben.

1995 ergriff der damalige Bezirksbürgermeister Hellersdorfs Uwe Klett (PDS) die Gelegenheit und forderte die würdige Aufarbeitung der Geschichte und die Rückbenennung der während des Nationalsozialismus umbenannten Straßen. Am 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands, benannte er symbolisch die Landvoigtstraße in Mendelssohnstraße zurück. Das Anbringen eines Schildes mit dem Hinweis auf das immer noch bestehende Unrecht war jedoch das einzige  Ergebnis.

Das Thema der Straßenumbenennungen wurde Anfang 2006 durch eine Unterschriftensammlung der Anwohner_innen gegen eine mögliche Rückbenennung wieder öffentlich präsent. Begründet wurde die Gegnerschaft bis zum damaligen Zeitpunkt fast ausschließlich mit finanziellen Belastungen für Bezirkshaushalt und Anwohner_innen. Diese Argumentation dominierte auch ein von der CDU initiiertes Bürger_innenforum im Mahlsdorfer Musikerviertel im Januar 2006, obgleich der damalige zuständige Stadtrat Svend Simdorn (CDU) dort betonte, dass die Frage der Rückbenennungen eine ausschließlich politische sei, da der finanzielle Aufwand sowohl für Bezirk als auch für die direkten Anwohner_innen marginal sei.

Mit mehreren Infoständen, Verteilaktionen, drei Info- und Diskussionsveranstaltung, einer Kundgebung am S-Bhf. Mahlsdorf und einem Gedenkspaziergang durch Mahlsdorf wurden Marzahn-Hellersdorfer Bürger_innen seit Februar 2007 über die politischen Hintergründe der Umbenennungen aufgeklärt und die Problematik durch die Initiative des Bündnisses „Kein Vergessen“ in die Öffentlichkeit getragen. Die Resonanz der Anwohner_innen war jedoch mehr als gering – ein Interesse an einer politischen Auseinandersetzung mit dem Thema konnten wir nicht erkennen. Ausschließlich Gründe wie Bequemlichkeit und Gewöhnung wurden nun als Argumente gegen eine Rückbenennung vorgebracht.

Während für die CDU und FDP das Thema laut eigener Aussage mittlerweile – mit Hinweis auf die 1995 angebrachten Hinweisschilder - beendet war und die Debatte um eine mögliche Rückbenennung ignoriert wurde, vertraten SPD und Grüne die Ansicht, die Anwohner_innen der Straße müssten diese befürworten. Gleichzeitig fanden jedoch keinerlei Versuche statt, durch Informations- oder Überzeugungsarbeit eine solche Zustimmung zu erreichen. Dies würde aber immerhin zunächst ein eigenes Bekenntnis zu den Rückbenennungen erfordern.

Eine Rückbenennung gegen den Willen der Anwohner_innen wurde mit der Argumentation, Antisemitismus durch die „Schaffung von neuem Unrecht“ zu fördern, mehrfach unter anderem auch von den SPD-Politikern Klaus Mätz und Ulrich Brettin ausgeschlossen. Dazu müsste jedoch schon ein gehöriges Potential latenter antisemitischer Ressentiments vorhanden sein, welches im Falle einer Rückbenennung in offenen Antisemitismus umzuschlagen droht. Weiterhin wird mit dem Gerede von „neuem Unrecht“ aktiv Geschichtsrevisionismus betrieben, indem die antisemitischen Verbrechen der Deutschen im NS mit dem Aufwand für heutige Anwohner_innen ihre Meldeadresse ändern zu lassen gleichgesetzt und damit verharmlost werden. Während bis heute der Mythos die deutsche Gedenk- und Erinnerungspolitik prägt, wonach die Deutschen von nichts gewusst und von einer kleinen Gruppe um Hitler verführt wurden, versuchen die Nachkommen der deutschen Täter_innen einen Schlussstrich unter die Geschichte zu setzten und sich selbst als Opfer der direkten Folgen des Nationalsozialismus darzustellen.

Am 27. September 2007 wurde durch einen Verordneten der Linkspartei in der Bezirksverordnetenversammlung der Antrag gestellt, den heutigen Pfalzgrafenweg wieder in Offenbachstraße rück zu benennen. Dieser wurde einstimmig von SPD, CDU, FDP und NPD mit nahezu identischer Argumentation, obgleich den demokratischen Parteien kein ausgeprägter Judenhass wie den Nazis unterstellt werden soll, abgelehnt. Und dies obwohl der SPD-Fraktionsvorsitzende, Klaus Mätz, auf einer Podiumsdiskussion zuvor erklärt hatte, er könne sich mit der Rückbenennung dieser Straße anfreunden, da nach Jacques Offenbach, anders als bei den anderen Künstler_innen, bis heute keine Straße in Berlin benannt ist. Die Begründung sich am Willen der Bürger_innen zu orientieren ist eher Ausdruck für mangelndes Geschichtsverständnis und zynischen Opportunismus.

Wir, das Bündnis „Kein Vergessen“, fordern weiterhin eine sofortige Rückbenennung der früheren Offenbachstraße, Meyerbeerstraße, Mendelssohn-Bartholdy-Straße, Gustav-Mahler-Straße, Max-Liebermann-Straße, sowie der zwei Heinrich-Heine-Straßen.

Bündnis Kein Vergessen, http://www.kein-vergessen.de/, kein-vergessenatriseup.net ( )

  • 1. Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss parteiunabhängiger, militanter Neonazis.
  • 2. a. b. Die Einrichtung war in den vergangenen Jahren mehrfach von Neonazis angegriffen und bedroht worden.
  • 3. Das ursprünglich keltische Symbol ähnelt einem dreiarmigen Hakenkreuz und wird daher von neonazistischen Kreisen entsprechend interpretiert. Es ist Teil des Logos des verbotenen, neonazistischen Musiknetzwerks “Blood & Honour”.
  • 4. Anlass war des Jahrestag der Bombardierung Dresdens 1945 durch die Alliierten. Dieses Thema gehört auch wegen seiner Anschlussfähigkeit an gesellschaftliche Debatten (Jörg Friedrich, Guido Knopp) spektrenübergreifend zu den jährlichen Kampagnen der neonazistischen Szene. Eine Onlinedokumentation zum Thema: ​http://venceremos.antifa.net/13februar/onlinedoku/index.html
  • 5. Der SA-Sturmführer gilt seit seinem Tod am 23.2.1930 als Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung.
  • 6. Die Abkürzung „AGL“ steht für “Aktionsgruppe Lichtenberg“.
  • 7. Hatecore ist eine explizit rassistische Subkultur, die sich ästethisch an der Hardcore-Kultur (deren Anhänger_innen sich in der Regel als links oder unpolitisch verstehen) orientiert.
  • 8. “Kategorie C” war eine Band, die zwar vorgab eine unpolitische Fußballband zu sein, die jedoch in der rechtsextremen Szene wirkte und deren Texte auch Passagen dieser Art enthalten.
  • 9. Die HDJ ist ein neonazistischer Jugendverband. Im Monitor Nr. 9 erschien ein Artikel über die HDJ.

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