3. September 2009
Liebe Leser_innen,
im Folgenden dokumentieren wir unsere Sammlung von Aktivitäten im Berliner Randbezirk Marzahn-Hellersdorf für das Jahr 2008, bei denen eine Ideologie von der Ungleichheit der Menschen sich manifestiert oder die politische Grundlage ist. Aktivitäten dieser Art erfassen wir bereits seit mehreren Jahren und wir sind bemüht diese Chronik kontinuierlich fortzuführen.
Als unabhängigen Projekten ist es uns - der Projektwerkstatt WuT und dem Antifaschistischen Bündnis Marzahn-Hellersdorf [ABM] - möglich auch diejenigen Aktivitäten zu erfassen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht angezeigt werden. Über diese geprüften Berichte von Zeug_innen und Betroffenen hinaus dienten uns die Presse, Pressemitteilungen und das Beobachten von Strafprozessen als Quellen der Dokumentation. Auch die von der bezirklichen Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus initiierte Vernetzung „Verzeichnis“ hat einige Aktivitäten erfasst und zu dieser Dokumentation beigetragen.
Diese Chronik erhebt jedoch nicht den Anspruch der Repräsentativität und ganz sicher nicht den der Vollständigkeit. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die erfassten Aktivitäten einer uns unbekannten Anzahl gegenüberstehen, von denen wir keine Kenntnis haben. Außerdem werden in dieser Veröffentlichung nur die uns bekannten Propagandaaktivitäten dokumentiert, die in ihrer Qualität oder Quantität über das leider gewöhnliche Maß hinausgehen.
Unsere Sammlung von Aktivitäten umfasst für das vergangene Jahr 94 (58) Einträge. Dabei handelt es sich um 42 (37) Propagandaaktionen (davon 6 (10) unter den Augen der Öffentlichkeit), 7 eigene Veranstaltungen, 3 (3) Sachbeschädigungen, 18 (11) Bedrohungen und 19 (9) Angriffe auf Menschen (die Zahlen in Klammern haben wir im Vorjahr erfasst). Die konkreteren Hintergründe, soweit bekannt, verteilen sich wie folgt:
explizit antisemitisch: 12; geschichtsrevisionistisch: 6; nationalsozialistischer Bezug: 28; gegen den (vermeintlich) politischen Gegner: 26; rassistisch: 14; sexistisch: 2
Fast ein Drittel der Aktivitäten, vor allem im Bereich der Propaganda, Bedrohungen und einem kleineren Teil der Angriffe, können der „Aktionsgruppe Marzahn/Hellersdorf“ (agmh) zugeordnet werden. Bei der „agmh“ handelt es sich um einen Freundeskreis junger Erwachsener, die sich zum Nationalsozialismus bekennen und bei denen der Antisemitismus eine bedeutende Koordinate in der Welterklärung darstellt. Es sind nicht mehr als eine Hand voll, die jedoch eine rege Aktivität für ihre Sache speziell in den Gebieten um den U-Bahnhof Louis-Lewin-Straße und in Alt-Marzahn an den Tag legen und fest mit anderen Neonazis des parteifreien Spektrums vernetzt sind. Es handelt sich nicht um eine neue Gruppierung: die Personen, die der „agmh“ angehören, sind bereits seit einigen Jahren beständig - und wohlgemerkt immer noch - aktiv und konnten kaum - entgegen den eigenen Aufrufen („Werdet aktiv!“) - Nachwuchs rekrutieren. Seit Beginn des Jahres 2008 bringen sie ihre Propaganda nun kontinuierlich unter dem Label der „agmh“ an die Wände um so einen relevanteren Eindruck zu erwecken.
Immerhin völlig zum Erliegen gekommen ist mittlerweile der Marzahn-Hellersdorfer NPD-Kreisverband. Einen Großteil des Jahres 2008 trat die Partei zwar häufiger als zuvor in Erscheinung, doch ist das auf einen frischen Wind, den Gesine Hennrich in den KV trug, zurück zu führen. Der ist seit dem Neonaziaufmarsch im Oktober 2008 als vermeintlichem Höhepunkt nun abgeflaut nachdem Hennrich (zuletzt KV-Vorsitzende) in einem parteiinternen Konflikt unterlegen und Anfang des Jahres 2009 ausgetreten ist. Wir dürfen gespannt sein, wer in Zukunft das Vakuum füllen wird. Auch der Aktivitätspegel der NPD-Verordneten Matthias Wichmann und Karl-Heinz Burkhardt hat sich vorläufig auf dem Niveau des inhaltlichen eingependelt; bei Null. Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die Seite des Projektes „Nazis in den Parlamenten“, das die Arbeit der NPD in den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen dokumentiert.
Andere regressive politische Zusammenhänge sind im vergangenen Jahr nicht bedeutend in Erscheinung getreten. Doch wie auch andernorts in Deutschland werden gerade die spontanen, Aufsehen erregenden Angriffe und Drohungen gegen Menschen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen, überwiegend von Personen durchgeführt, die allenfalls lose und subkulturell mit der organisierten Rechten verbandelt sind.
Exemplarisch dafür stehen die äußerst brutalen Angriffe auf Menschen, die aus Südostasien nach Deutschland migrierten und hier wirkmächtig als Fremde stigmatisiert werden. Wir mussten im vergangenen Jahr drei derartiger Angriffe registrieren, denen verschiedene distinktive Momente gemein waren und die allesamt von mehr oder weniger gewöhnlichen Deutschen ausgeführt wurden. Diese Realität erreichte am 6. August in ihrem vorläufigen traurigen Höhepunkt, als der 20-jährige Nguyen Tan Dung in Marzahn ermordet wurde.
Wir betrachten diese Dokumentation als einen der grundlegenden Beiträge zur antifaschistischen Praxis in Marzahn-Hellersdorf, der es ermöglichen soll, Einschätzungen über die organisierte Rechte und Formen alltäglicher Diskriminierung zu treffen und die Notwendigkeit zur Intervention zu erkennen. Wir erhoffen uns dadurch eine Sensibilisierung für mehrheitlich nicht-akzeptierte, gleichwohl auch für akzeptierte Praktiken der Ungleichbehandlung von Menschen und die Ausbildung kritischen Bewusstseins. Nicht zuletzt möchten wir mit dieser Chronik Solidarität mit all denen ausdrücken, die für eine bessere Welt kämpfen, in der die objektiven Bedingungen der Ungleichheit aufgehoben sind und in der Menschen ohne Angst verschieden sein können. Wie sich am Umfang der Dokumentation bemerkbar macht, sind offene Augen unverzichtbar für unsere Arbeit. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen, die uns Hinweise gaben, und möchten darum bitten uns weiterhin zu informieren, wenn es mit rechten Dingen zugeht in der Nachbarschaft.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass das Nutzen dieser Dokumentation zu politischen Zwecken ausdrücklich erwünscht ist. Sollten Presse oder politische Initiativen Teile davon für eigene Veröffentlichungen nutzen, sind diese mit einer Quellenangabe zu versehen. Über eine Mitteilung und ein Belegexemplar würden wir uns freuen. Für Nachfragen stehen wir gerne zur Verfügung. Staatlichen Institutionen und solche, die staatlich finanziert werden, ist die Verwendung nur mit unserer Zustimmung gestattet.
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